Wenn Architekten träumen
Leben unter Bäumen inmitten der Stadt? Beim leisen Geplätscher eines Baches? Die Darmstädter Waldspirale, ein farbenfroher Gebäudekomplex im Bürgerparkviertel, der in nur 18 Monaten Bauzeit auf dem Areal des ehemaligen Schlachthofes entstand, bietet seinen Bewohnern tatsächlich sehr Ungewöhnliches. Das im Jahr 2000 vollendete u-förmige Gebäude besitzt eine wie von Kinderhänden bemalte bunte Fassade, goldglänzende Zwiebeltürme, Terrassen, Loggien und einen dem emporsteigenden Verlauf folgenden Dachgarten mit Baumvegetation. Es endet in einem Gebäudeteil mit zwölf Stockwerken. Auch an Praktisches wurde gedacht: Die Waldspirale verfügt über eine Tiefgarage, einen Kiosk und ein Café. Wie die Materialisierung des Architektentraums vom besseren Wohnen wirkt die Waldspirale – und in gewisser Weise ist sie das auch. Denn der, dessen Vision hier durch den Architekten Heinz M. Springmann realisiert wurde, heißt Friedensreich Hundertwasser (1928–2000).
For Future – leben im Grünen
Womöglich würde er mitlaufen, vorneweg, mit Greta Thunberg und all den anderen Kids der Fridays-for-Future-Bewegung. Vor vielen Jahrzehnten bereits und als einer der ersten äußerte sich der Künstler Friedensreich Hundertwasser, der in selbstgebastelten Schuhen und selbstgenähter Kleidung umherlief und der in einem Mosaik in der Waldspirale verewigt wurde, zur Architektur als Teil der Ökologie. „Der Baum ist die beste Investition für die Zukunft“, lautet eine seiner Äußerungen und in Anbetracht des Klimawandels kommt man ins Grübeln, warum Sätze wie diese seit Generationen ungehört verhallen. Oder zumindest keine wesentlichen Änderungen ausgelöst haben.
Was wir dringend benötigen …
Bereits 1953 mahnte Hundertwasser: „Die gerade Linie führt zum Untergang“. Aus diesem Grund forderte er „Schönheitshindernisse“, die aus „unreglementierten Unregelmäßigkeiten“ bestehen. Zum Beispiel die ungewöhnlichen Grundrisse, die viele der 105 Wohnungen in der Waldspirale zu Unikaten werden lassen, und 1048 in Größe, Form oder Rahmung unterschiedliche Fenster, die den Bewohnern das Gefühl vermitteln, sie lebten in etwas „Handgemachtem“. Bunte Kacheln schmücken wie kleine Kunstwerke die Fassaden. Säulen, ungewöhnliche Nischen und andere Details geben die Inspirationen des Künstlers an die Bewohner des Hauses weiter. Unregelmäßigkeit herrscht auch in den für Bewohner reservierten Innenhöfen und Durchgängen mit künstlichen angelegten Bachläufen und einem Tümpel, der auch bereits erste Mieter angelockt hat: eine Entenfamilie.
Die Architektur als „dritte Haut“
Schon früh hat Hundertwasser, der sich als „Architektur-Doktor“ verstand, einen Friedenspakt mit der Natur gefordert. Er nannte dies die „Baumpflicht“. Denn die Architektur ist nicht einfach Umgebung. Für den Österreicher war ein Haus „ein lebendes Wesen“ und des Menschen „dritte Haut“. Seit den 1950er-Jahren entwarf er Hochhäuser mit Begrünung wie das Vierstöckige Gemeindehaus mit fünf Wäldern und Wiesen (1970), das Augenschlitzhaus (1974) oder das Spiralhaus (1975). Angesichts des Hypes der vergangenen Jahrzehnte um Megacitys aus Glas, Stahl und Aluminium mit eindeutig klimaschädlicher Wirkung, wie sie in Amerika, Asien oder Afrika entstanden und entstehen, kommt man schon ins Grübeln. Warum konnten sich Bauprojekte, die Hitze und Sonneneinstrahlung kompensieren, denn nicht durchsetzen? Die Waldspirale entstand aus ressourcenschonendem Recycling-Beton. Bauträger ist übrigens kein auf Dividende schielender Investor, sondern die Bauverein AG Darmstadt, eine Tochterfirma der Stadt.