Das Wort „Thing“ entstammt der altnordischen Sprache und bezeichnete bei den Germanen den Platz, wo Recht gesprochen wurde und wo sich das Volk versammelte. Häufig lag der Thingplatz unter einem mächtigen Baum und immer fanden diese Zeremonien unter freiem Himmel statt. Im Laufe der Jahrhunderte wurden diese Orte einer neueren Bestimmung zugeführt, und so wurden die Plätze, wo einstmals der sogenannte „Freie Rat“ tagte, zu Freilichtbühnen. Unter anderem auf dem Felsen der Loreley am Rhein und in Bad Segeberg, wo heute die Karl-May-Spiele am Kalkberg malerisch inszeniert werden. Aber auch Heidelberg hat seine Thingstätte, und sie ist gleichermaßen ein beliebtes Ausflugsziel und als ehemaliger Feierplatz der Nazis ein Fanal aus unrühmlicher Zeit.
Die Freilichtbühne entstand auf einem geschichtsträchtigen Boden, denn an den Hängen des Heiligenberges am westlichen Rand des Odenwaldes, wurden Steinbeile und Scherben aus der Jungsteinzeit gefunden. Als sich die Nationalsozialisten diesen Ort als Versammlungsplatz ihrer „völkischen Feier- und Weihestunden“ erkoren, wurden beim Bau im Jahr 1934 die Überreste eines doppelten Ringwalles aus der keltischen Besiedelung dieser Gegend bei Sprengungen zerstört. Nach ihrer „Machtergreifung“ beabsichtigten die Nazis, Heidelberg als Stadt der Studenten zum „Salzburg des deutschen Südwestens“ aufzuwerten. Und als auf dem Heiligenberg die Bagger anrückten, wurden auf den Hof des Heidelberger Schlosses erstmals die „Reichsfestspiele“ inszeniert.
Die Thingstätte Heidelberg sollte zu einem Wallfahrtsort der Nazis und zu einem wichtigen Aufmarschplatz werden. Die ursprünglichen Pläne sahen vor, dass dort neben 10.300 Sitzplätzen auch Raum für weitere 20.000 Stehplätze geschaffen wurde. Der „Freiwillige Arbeitsdienst“ schuftete dort in zwei Schichten, da die Pläne des Karlsruher Hochschulprofessors Hermann Alker lediglich eine kurze Bauzeit vorsahen. Für die 1.200 Arbeiter gab es pro Tag einen Lohn von einer Reichsmark. Die Arbeiten verzögerten sich dann aber um etliche Monate, weil der Untergrund sehr felsig war. Propagandaminister Joseph Goebbels erschien schließlich am 22. Juni 1935 zur feierlichen Eröffnung. In seiner Rede bezeichnete er das Freilichttheater als Stätte des „zu Stein gewordenen Nationalsozialismus“ und die Anlage als „wahre Kirche des Reiches“.
Thingstätten kamen in der Periode des Nationalsozialismus groß in Mode. In Deutschland waren um die 70 Anlagen dieser Art geplant oder im Bau. Doch nach und nach verschwand der Begriff „Thing“ aus dem Vokabular der Nazis, und so fand im Jahr 1936 in der „Feierstätte Heiligenberg“ eine Gausonnenwendfeier statt. Die Freilichtbühne hatte ein muschelförmiges Format erhalten und sollte einem griechischen Amphitheater ähneln. Die 56 Reihen für die Zuschauer stiegen 25 Meter schräg an. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wurde die Thingstätte Heidelberg nicht mehr genutzt.
Sie verfiel mehr und mehr und wurde lediglich von der amerikanischen Gemeinde am Neckar zur österlichen Sonnenaufgangsfeier oder von Jugendlichen zu sportlichen Wettkämpfen aufgesucht. Mittlerweile stand die Anlage unter Denkmalschutz und wurde zum Schauplatz einiger Open-Air-Vorstellungen. Die Opernstars Montserrat Caballé und Placido Domingo traten dort ebenso auf wie Udo Jürgens und André Rieu mit seinem Orchester. Dabei wurde die ausgezeichnete Akustik der Freilichtbühne von den Besuchern gelobt. Seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts wurde die historische Thingstätte zum Ort, wohin sich tausende Heidelberger zur alljährlichen Walpurgisnacht einfanden. Allerdings verbot die Stadt Heidelberg im Dezember 2017 derlei Veranstaltungen wegen der fehlenden Infrastruktur und der Bedrohung durch Waldbrände.
Und so ist der Heidelberger Thingplatz heute vor allem das Ziel für Wanderer, die an den abgeschiedenen Hängen des Odenwaldes die Ruhe suchen.
Adresse
69121 Heidelberg