Anders als in den sog. „heidnischen“, also animistischen und ethnischen sowie indigenen und schamanistischen, zumeist polytheistischen Natur- und Stammesreligionen der Antike sowie Vor- und Frühgeschichte, in denen die Leiber von Leichnamen auch bei einst hoher sakraler Bedeutung der Verstorbenen in der Regel nicht als Reliquien verehrt wurden, sind Konservierung, Ausstellung und Anbetung von oft aufwendig und kostbar geschmückten sterblichen Überresten einstiger Märtyrer und Würdenträger in den großen Weltreligionen Christentum, Islam sowie Buddhismus und Schintoismus schon seit Jahrhunderten üblich.
Die ersten Belege für christliche Reliquienverehrung stammen aus dem 2. Jahrhundert, als die Asche von zu dieser Zeit noch als Ketzer und Ungläubige von der römischen Obrigkeit erbittert verfolgten und anschließend auf Scheiterhaufen lebendig verbrannten Märtyrern später heimlich von den Gläubigen aufgesammelt wurde. Vergleichbar hiermit gibt es auch im Buddhismus die vermutlich bis zu Lebzeiten des Religionsstifters Siddhartha Gautama („Buddha“) vor 2.500 Jahren zurückreichende Tradition, „Sarira“ benannte winzige Perlen und Kugeln, die nach der Verbrennung buddhistischer Meister angeblich in deren Asche gefunden werden, als Reliquien anzubeten.
Die Kirche erkannte schon früh, dass sie mit Reliquien viele neue Anhänger gewinnt
Während sich die alte Kirche im Frühchristentum zunächst noch gegen derartige Praktiken aussprach und sie zu verhindern suchte, änderte sich diese Haltung gegenüber Reliquien im Lauf des Mittelalters generell und grundlegend. Spätestens mit dem Aufkommen vieler Mythen und Legenden ab dem 5./6. Jahrhundert rund um vermeintliche Wunderheilungen, die von Märtyrerreliquien bewirkt wurden, billigte und förderte die Kirche deren Entstehung und Verbreitung. Dieser Sinneswandel wurden nach der Ansicht mancher Theologen und Religionsforscher wohl vor allem auch deshalb vollzogen, um die damals noch recht starke Konkurrenz heidnischer Glaubensbekenntnisse mit der Toleranz gegenüber emotionaler und ekstatischer Reliquienverehrung sowie Volksfrömmigkeit auszuschalten.
Ab dem 8./9. Jahrhundert wurden dann die Altäre in fast sämtlichen bereits bestehenden und besonders neuen Kirchen mit Reliquien von nicht selten ominöser bis zweifelhafter Herkunft bestückt. Bekannte Beispiele hierfür im deutschsprachigen Raum sind etwa der Dreikönigenschrein aus dem 12. Jahrhundert im Kölner Dom, der angeblich die Gebeine von Caspar, Melchior und Balthasar beinhalten soll und das Schicksal der Heiligen Jungfrau Ursula von Köln, der die gleichnamige Kirche aus dem 13. Jahrhundert ihren Namen verdankt.
Die Katakombenheiligen aus Rom waren quasi bereits tote Glaubensflüchtlinge
Bis kurz vor dem Beginn der Reformation im frühen 16. Jahrhundert war um die Reliquien schließlich ein derartiger Kult und auch Kommerz entstanden, den nicht nur Martin Luther und seine Getreuen heftig und lautstark kritisierten, sondern der auch von besonneneren Vertretern der katholischen Kirche als stark übertrieben verurteilt wurde. Die zur Mäßigung mahnenden Stimmen konnten den ab 1520 in ganz Europa beginnenden reformatorischen Bildersturm, bei dem neben weiteren wertvollen Kirchenschmuck auch viele Reliquien aus Gotteshäusern gestohlen, beschädigt oder zerstört wurden, jedoch nicht verhindern.
Unter dem Eindruck der sich überschlagenden Ereignisse und aus Furcht, dass auch die Stadt Rom von solchem Vandalismus betroffen werden könnte, wurden Tausende von Gebeinen frühchristlicher Märtyrer aus den Katakomben vor Ort und im Vatikan exhumiert, mit neuen Namen sowie Legenden ausgestattet und nördlich der Alpen hauptsächlich in die Schweiz sowie nach Deutschland und Österreich verbracht. Vorrangig in diesen drei Ländern wie auch in Tschechien stellen die nach ihrer Ankunft häufig verschwenderisch mit Gold und Edelsteinen sowie teuren Stoffen und Stickereien geschmückten Katakombenheiligen vom 16. bis 19. Jahrhundert viel beachtete und bewunderte lokale und regionale Attraktionen dar.
Im traditionell katholischen Bayern hat sich Glaube an Märtyrer bis heute gehalten
Alleine in Deutschland und dort speziell im auch nach der Reformation katholischen Süden existieren bis heute annähernd drei Dutzend Orte und Kirchen und Klöster mit berühmten römischen Katakombenheiligen. Besonders Bayern kann zahlreiche Ganzkörperreliquien frühchristlicher Märtyrer vorweisen, so u. a. im Birgittenkloster in Altomünster (Landkreis Dachau), in der Wallfahrtskirche Maria Schnee in Aufhausen (Landkreis Regensburg) und im früheren Augustinerchorherrenstift Dietramszell (Landkreis Bad Tölz-Wolfratshausen). Viel überregionale Bekanntheit besitzen auch die als städtische Schutzpatrone verehrten zehn Katakombenheiligen in der von 1685 bis 1704 erbauten Stiftsbasilika in Waldsassen, die zwischen 1688 und 1765 dorthin gebracht wurden.
Wie weiter oben bereits erwähnt und auch sonst bei großen Reliquien dieser Art vielerorts gang und gäbe, sind die häufig auch „Heilige Leiber von Waldsassen“ genannten und hinter Glas in Vitrinen gelagerten Leichname üppig mit Schmuck wie Gold und Perlen sowie kostbarer Kleidung aus Brokat, Samt und Seide versehen. Ein guter Zeitpunkt, die balsamierten Heiligen aus der Nähe zu betrachten, ist das schon seit über 250 Jahren alljährlich am 1. August zelebrierte„Heilige-Leiber-Fest“, bei dem zahlreiche Gläubige aus dem umliegenden Landkreis Tirschenreuth, der Oberpfalz sowie Franken und Nordbayern den uralten Märtyrern ihre Ehre erweisen.
Adresse
Stiftbasilika, Basilikaplatz 6, 95652 Waldsassen